Der junge Mann unten auf dem Foto ist mein Vater. Es zeigt ihn während seiner Arbeit als Fahrdienst-leiter bei der Deutschen Bahn zu einer Zeit, als ich selbst noch nicht geboren war. Schätzungsweise entstand es Ende der 70er oder Anfang der 80er Jahre. Bereits ein paar Jahre später, als ich ihn als kleiner Knirps zum ersten Mal an seinem Arbeitsplatz besuchte, ging das Stellen der Weichen und auch das Öffnen und Schließen der Schranken schon automatisch. Das war vor gut 30 Jahren.
Wenn ich heute den Beruf meines Vaters in den Job-Futuromaten des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit) eingebe, kommt dabei folgendes heraus:
Der Job-Futuromat berechnet die Automatisierbarkeit von Berufen. Im Falle meines Vater sind bereits 80 Prozent der Tätigkeiten seines Berufs automatisierbar. Wenn er in ein paar Jahren in Rente geht, wird eine Kollegin oder ein Kollege noch ein paar Jahre den Job machen. Dann übernehmen die Algorithmen. Und zwar voraussichtlich nicht nur die Stellwerke, an denen mein Vater noch arbeitet. Denn gerade die Dienstleistungen der Bahn lassen sich leicht digitalisieren. Schon bald werden wir wahrscheinlich selbstfahrende Züge nutzen, vielleicht auch Serviceroboter in den Bordrestaurants. Fahrkartenausgabe und Buchung laufen ohnehin schon seit geraumer Zeit über Computer und Automaten. Die so voranschreitende Automatisierung wirft für die Entwicklung der gesamten Gesellschaft Fragen auf:
Auf solche Fragen versuchte der Philosoph Frithjof Bergmann vor über 35 Jahren praktische Antworten zu liefern. Seinen Ansatz nannte er >> New Work << - zu deutsch >> Neue Arbeit <<.
In Detroit - dort begann Bergmann's Projekt - drohten damals Massenentlassungen bei dem Automobilkonzern General Motors - und zwar ebenfalls aufgrund von Automatisierungen. Der erste Teil des Vorschlags, den Bergmann und sein Team den Konzernverantwortlichen und Angestellten damals unterbreiteten, lautete wie folgt: Anstatt die Hälfte der Belegschaft zu entlassen, behalten alle ihren Job,arbeiten aber nur noch in der Hälfte der Zeit.
Der eigentliche Kern von New Work ist dabei nicht die Reduktion der Arbeitszeit, sondern der richtige Umgang mit der dadurch frei gewordenen Zeit. Es geht darum, die eigene Lebenszeit für etwas zu nutzen, das man >> wirklich, wirklich will <<, so Bergmann. Genau darin besteht die Idee der Neuen Arbeit. Um die Angestellten von GM bei der Suche nach einer solchen Arbeit zu unterstützten, gründeten die New-Work-Vertreter* innen eine Organisation - das Zentrum für Neue Arbeit. Wir können uns dieses Zentrum als eine Art pädagogische Institution mit dem Ziel der Persönlichkeitsent-wicklung vorstellen.
>> Nicht wir sollten der Arbeit dienen, sondern die Arbeit sollte uns dienen. Die Arbeit, die wir
leisten, sollte nicht all unsere Kräfte aufzehren und uns erschöpfen. Sie sollte uns stattdessen mehr Kraft und Energie verleihen, sie sollte uns bei unserer Entwicklung unterstützen,
lebendigere, vollständigere, stärkere Menschen zu werden. <<
Frithjof
Bergmann
Der Kerngedanke von New Work - leidenschaftlich das zu tun, was uns Freude bereitet und unseren Fähigkeiten entspricht - könnte aktueller kaum
sein. Erstens gibt es zu viele >>Bullshit-Jobs<<, wie der Ethnologe David Graeber in seinem gleichnamigen Band
zeigte. Zweitens gehen Digitalisierung und Arbeit 4.0 mit weiteren Automatisierungen einher. Drittens
brennen zu viele Menschen von ihrer Arbeit aus. Viertens haben gerade die jungen Generationen (die so genannten Generationen Y
und Z) den Anspruch, sich in ihrer Arbeit verwirklichen zu können. Fünftens ist das Umdenken bezüglich der Arbeit bereits in vollem
Gange: Einzelne Branchen, Betriebe und Länder experimentieren mit der 4-Tage-Woche. In immer mehr Unternehmen wird versucht,
mittels Job-Crafting das Berufsbild an die Fähigkeiten und Wünsche der Mitarbeiter anzupassen. Startups und Kleinunternehmen experimentieren mit demokratischen
Organisationsformen wie Holocracy. Auf der gesellschaftlichen Ebene werden zunehmend Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen oder
Postwachstumsökonomie diskutiert, die - im Falle ihrer Umsetzung - einen fundamentalen Wandel der Arbeitswelt mit sich bringen würden.
Ich verstehe viele der heute im Kontext von New Work diskutierten Ideen als Bereicherung für unsere Gesellschaft und hoffe, dass Philosophie und Wissenschaft dazu
beitragen, der Utopie einer fröhlichen, stärkenden Arbeitskultur ein Stück näher zu kommen.